Mit den Augen eines Kindes by Petra Hammesfahr

Mit den Augen eines Kindes by Petra Hammesfahr

Autor:Petra Hammesfahr [Hammesfahr, Petra]
Die sprache: deu
Format: mobi
ISBN: 9783499236129
Herausgeber: rororo
veröffentlicht: 2012-09-03T15:29:13+00:00


Kurz nach sechs bemühte ich mich, von Oliver zu erfahren, was nun genau sich eine Woche zuvor bei seinem Freund abgespielt hatte. Mit blanken Augen saß er vor seinem Teller und rührte sorgfältig sein Müsli um. Dass kleine Kinder frühmorgens immer gleich so hellwach sein müssen. Mit skeptischer Miene hörte er sich an, dass er mir alles sagen musste, nicht lügen, nichts dazuerfinden und nichts weglassen durfte. Die letzte Forderung war vermutlich überflüssig, weggelassen hatte er bisher äußerst selten etwas. Wenn doch, dann nur die Wahrheit. Aber die hatte ich ja ausdrücklich mit der ersten Forderung verlangt.

«Und wenn der kleine Mann Tante Ella frisst?», gab er zu bedenken.

«Kleine Männer fressen keine Frauen», sagte ich. «Und wir können dafür sorgen, dass Tante Ella auch sonst nichts passiert.»

«Ganz bestimmt?»

«Ja», behauptete ich.

Er schob sich einen Löffel voll Müsli in den Mund und kaute bedächtig. Damit war er eine Weile beschäftigt. Dann erklärte er: «Aber der Papa von Sven hat gesagt …»

«Der Papa von Sven hatte Angst», unterbrach ich ihn «Und mit Angst helfen wir Tante Ella nicht. Wenn man aus Angst vor bösen Menschen den Mund hält, ist das immer falsch. Dann kann kein Polizist die bösen Menschen verhaften. Du warst doch schon so mutig, hast mir ein Bild von Rex gemalt und erzählt, dass du dich hinter dem Zaun versteckt hast. Da kannst du mir auch erzählen, was Rex und der kleine Mann gemacht haben.»

Das leuchtete ihm ein. Er nickte, sich der Tragweite seiner Aussage voll und ganz bewusst. Eine halbe Stunde später hatte ich ein relativ klares Bild gewonnen. Demnach waren am vergangenen Montagnachmittag ein großer Mann mit Bart, ein kleiner Mann in einer Lederjacke und eine böse Frau bei Godbergs aufgetaucht. Fremde Leute, Olli hatte sie nie zuvor gesehen. Es waren ganz bestimmt nicht die Rocker gewesen. Und Onkel Manfred könne nicht einer der beiden Männer gewesen sein, meinte er. Onkel Manfred war ja ein Prolet und durfte Tante Ella nicht besuchen. Dass Ellas Bruder uneingeladen und mit Verstärkung aufgetaucht sein könnte, konnte Olli sich nicht vorstellen.

Er hatte mit Sven im Garten gespielt. Das Arbeitszimmer von Alex lag wie das Wohnzimmer an der Rückseite des Hauses. Das Fenster war offen, davor gab es keine Gardinen. Man konnte problemlos in den Raum schauen, wenn man sich weiter hinten im Garten aufhielt.

Oliver und Sven hatten kein Klingeln an der Haustür gehört. Sie wurden durch die Stimme von Alex aufmerksam. Er protestierte lautstark gegen ein Ansinnen der Besucher. Der große Mann brachte ihn mit einem Faustschlag ins Gesicht zum Schweigen. Ella rannte mit einem Aufschrei aus dem Zimmer, kam ins Wohnzimmer und stieß dort eine Vase um, die zerbrach. Ella blutete aus ihrem wehen Arm, wie das passiert war, wusste Olli nicht. Wahrscheinlich versuchte Ella zu fliehen. Doch der kleine Mann war ihr dicht auf den Fersen, bekam sie bei der Terrassentür zu packen und setzte ihr ein Messer an den Hals.

Die Kinder bekamen Angst – auch wenn Olli steif und fest behauptete, er hätte keine gehabt. Sie zogen sich weiter in den Garten zurück.



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